Forschungszentrum Hermeneutik und Kreativität

5. Juristische Hermeneutik und Fachübersetzung

Leitung: Prof. Dr. Tinka Reichmann

Juristisches Handeln ist hermeneutisches Handeln. Gesetze und Rechtsvorschriften müssen unter Verwendung verschiedener Auslegungsmethoden interpretiert werden, um zu prüfen, ob sie für die Anwendung auf einen konkreten Sachverhalt in Frage kommen, aber auch um Lücken zu ergänzen, die immer dann entstehen, wenn bestimmte Sachverhalte zum Zeitpunkt der Schaffung eines Gesetzes (noch) nicht in Betracht gezogen wurden.

Auch der juristische Übersetzer ist hermeneutisch tätig. Seine Aufgabe im Rahmen der Fachkommunikation besteht darin, den Sinn eines zu übertragenden Originals zu erschließen und ihn in der Übersetzung wiederzugeben. Hierbei muss er sich Unterschiede zwischen der Rechtsordnung, in der das Original entstanden ist, und derjenigen, in der das Translat erscheinen soll, ins Bewusstsein rufen und für seinen Leser explizieren, um so vorhandene Lücken zu schließen und Missverständnisse zu vermeiden. Die geschickte Verknüpfung von Fachwissen und translatorischer Kompetenz durch den Übersetzer ist bei diesem Vorgang entscheidend. Welche Verbindung besteht zwischen der auslegenden Tätigkeit eines Juristen einerseits und der Interpretation im Rahmen der Übersetzung andererseits? Wie kann sich der Rechtsübersetzer das notwendige Wissen über die Ausgangs- und Zielrechtsordnung sowie deren Textsorten, linguistische Konventionen und Terminologie aneignen? Welche Beiträge können juristische Hermeneutik, Rechtsvergleichung, Terminologielehre, Rechtslinguistik, Fachsprachenforschung, Textlinguistik und Translationswissenschaft zur Rechtsübersetzung leisten?

Gelingt es dem Übersetzer, den von ihm erfassten Sinn des Originals in der Übersetzung wiederzugeben, lohnt sich auch die Untersuchung der Wirkung der Übersetzung auf die Zielkultur. Welchen Einfluss hat die auslegende Tätigkeit des juristischen Übersetzers auf Rechtssystem und Rechtssprache der Zielkultur? Zur Beantwortung dieser Frage ist es angebracht, den Blick auch auf ganze juristische Textverbünde zu richten und die Rolle der Übersetzungen darin (z.B. in ganzen Gerichtsverfahren) zu beleuchten, oder aber die Veränderung der Rechtssprache durch den Einfluss der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung zu untersuchen.

 

Themenbezogene Publikationen:

  • Reichmann, T. (2007), Translatorische Fragen der Übertragung deutscher Eheverträge ins Portugiesische. In: Gil, A.; U. Wienen (Hg.), Multiperspektivische Fragestellungen der Translation in der Romania. Frankfurt/M.: Lang, 243-269.
  • Reichmann, T. (2009), Marcas culturais nas linguagens de especialidade. In: Lusorama, v. 77-78, 103-122.
  • Reichmann, T. (2010), Reflexões sobre a linguagem jurídica brasileira e as conseqüências para a tradução. In: Endruschat, A.; R. Kemmler (Hg.), Portugiesische Sprachwissenschaft: traditionell, modern, innovativ, Tübingen: Calepinus, 201-218.
  • Reichmann, T. (2012), Equivalência funcional na tradução juramentada. In: Centro Interdepartamental de Tradução e Terminologia (Hg.) (2012), Temas de Tradução Juramentada. Cadernos de Terminologia N° 5. 44-53.
  • Reichmann, T. (2013), Gerichte und Richterämter: ein terminologischer Vergleich zwischen Brasilien und Deutschland. In: Reichmann, T. / Sträter, T. (Hg.), Übersetzen tut not - Traduzir é preciso. Beiträge zur Übersetzungstheorie und praxis in der deutsch- und portugiesischsprachigen Welt. Contribuições para a teoria e prática da tradução nos mundos lusófono e germanófono. Berlin: Tranvía, 213-233.
  • Reichmann, T.; Zavaglia, A. (2014), A tradução juramentada de documentos escolares (português, francês, alemão). In: Tradução em Revista - Tradução Jurídica e Juramentada, v. 17/2, Rio de Janeiro: PUC, 45-56. (http://www.maxwell.vrac.puc-rio.br/trad_em_revista.php?strSecao=input5&fas=259)
  • Reichmann, T. (2015), Artigos, parágrafos, incisos e afins: as estruturas do texto legal na tradução alemão/português. In: Cadernos de Terminologia e Tradução n° 07: Temas de Tradução Juramentada II, 2015, 9-27. (http://citrat.fflch.usp.br/node/313).
  • Reichmann, T. (2015), Der Jurist als Journalist: intralinguale Übersetzung in den brasilianischen Medien. In: Polzin-Haumann, Claudia; Gil, Alberto (Hg.), Angewandte Romanistische Linguistik. Sankt Ingbert: Röhrig, 47-61.
  • Reichmann, T.; Aussenac-Kern, M. (2016), Das Gerichtsdolmetschen aus Sicht des Rechts und der Translationspraxis: eine deutsch-französische Perspektive. In: Hartwig Kalverkämper. (Hg.). Fachkommunikation im Fokus: Paradigmen, Positionen, Perspektiven. Berlin: Frank & Timme, 633-661.
  • Reichmann, T. (2016a), Anklageschriften und Strafbefehle im deutsch‑brasilianischen Vergleich. In: Zhu, J. / Zhao, J. / Szurawitzki, M. (eds.). Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Bd. 3. Frankfurt/M.: Lang, 343-347.
  • Reichmann, T. (2016b), Denúncia e Anklageschrift: um estudo contrastivo. In: Language and Law - Linguagem e Direito, v. 3, 71-88. (http://ler.letras.up.pt/uploads/ficheiros/14343.pdf)
  • Reichmann, T. (2017a), Translation in the Law: between Freedom and Convention. In: Zybatow, L./ A. Stauder / M.  Ustaszewski (Hg.), Translation Studies and Translation Practice: Proceedings of the 2nd International TRANSLATA Conference. Frankfurt/M.: Lang, 189-196.
  • Reichmann, T. (2017b), Schlüsseltextsorten in deutschen Strafakten. In: Hoffmann, R./ N. Keßler / D. Mallon (Hg.), Sprache und Recht: Übersetzer und Dolmetscher als Mittler zwischen Sprachen und Rechtssystemen. Berlin: BDÜ Fachverlag, 100-110.
  • Reichmann, T.; Aussenac-Kern, M. (i.Dr.), Die fachliche Vernetzung der Textsorte „Anklageschrift“ im deutschen und französischen Rechtssystem.

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